Dienstag, Januar 11, 2011

Zweifel an richterlicher Unvoreingenommenheit – AGENS fordert Verfassungsrichterin Baer zu Klarstellung auf

P R E S S E M I T T E I L U N G vom 10.01.2011

Der Verein agens e.V., ist eine Initiative zur Herbeiführung einer geschlechterdemokratischen Gesellschaft. Wir greifen mit dem beigefügten „offenen Brief“ an die neue Richterin am Bundesverfassungsgericht, Frau Dr. Susanne Baer, deren Stellungnahme über „mittelbare Diskriminierungen“ des deutschen Gesetzgebers auf. Wir möchten ihr Gelegenheit geben, eine irritierende Äußerung klarzustellen, die Zweifel an ihrer richterlichen Unvoreingenommenheit aufkommen ließ. Es geht um das gemeinsame Sorgerecht beider Eltern:

Verlust des Sorgerechts infolge einer Elterntrennung

§ 1671 BGB des Familienrechts ermöglicht es, auf bloßen Antrag eines getrennt lebenden Elternteils das Sorgerecht des anderen Elternteils - auch ohne Verfehlungen von dessen Seite - zu beseitigen. Damit wird zugleich auch das dem Sorgerecht innewohnende Grund- und Menschenrecht des betroffenen Elternteils auf „Pflege und Erziehung“ seiner Kinder vernichtet. Die zwar geschlechtsneutral abgefasste Norm führt in ihrer Anwendung allerdings dazu, dass zu ca. 90% Väter, aber nur zu ca. 10% Mütter von solcher Grundrechtsbeschränkung betroffen werden. An diesem Missverhältnis wird eine mittelbare Diskriminierung nach dem Geschlecht im Sinne der Rechtsprechung des EU-Gerichtshofes offenkundig. Da die neue Bundesverfassungsrichterin im 1. Senat des Bundesverfassungsgerichtes auch für Familienrecht zuständig sein wird, halten wir ihre Bewertung dieser Rechtstatsache – auch als Fingerzeig an den Gesetzgeber – für im öffentlichen Interesse liegend.

Kritik an der „Dominanz“ eines Menschenrechtes?

Die mit gleicher FAZ.NET-Stellungnahme verbreitete Äußerung der neuen Verfassungsrichterin, das gemeinsame Sorgerecht werde als „allzu dominanter Regelfall“ angesehen, muss wegen des dem Sorgerecht innewohnenden universellen Eltern- Menschenrechtes Irritationen hervorrufen.

Ja, es muss darüber hinaus Zweifel an ihrer richterlichen Unvoreingenommenheit aufkommen lassen. Im Interesse des hohen Ansehens und des Respekts, den das Bundesverfassungsgericht in der deutschen Öffentlichkeit genießt, halten wir es daher für geboten, Frau Dr. Baer diesbezüglich Gelegenheit zu einer Klarstellung einzuräumen.

Sofern Frau Dr. Baer unsere Anregungen aufgreift, werden wir ihre Reaktion auf gleichem Wege der Öffentlichkeit zur Kenntnis geben, ebenso wie den Fall einer möglichen Nichtreaktion nach angemessener Zeit.


Es folgt der offene Brief von AGENS an Bundesverfassungsrichterin Baer:

Frau
Bundesverfassungsrichterin Dr. Susanne Baer
Bundesverfassungsgericht
Schlossbezirk 3
76131 Karlsruhe

Sehr geehrte Frau Dr. Baer,

der Herr Bundespräsident hat Sie vor wenigen Wochen zur neuen Verfassungsrichterin im 1. Senat des Bundesverfassungsgerichtes ernannt. Hierzu beglückwünschen wir Sie recht herzlich und wünschen Ihnen stets einen ungetrübten Blick auf die Grund- und Menschenrechte der in unserem Lande lebenden gesetzesunterworfenen Bürger beiderlei Geschlechts.

In einer über FAZ.NET verbreiteten Stellungnahme vom 23.11.2010 wenden Sie sich sehr deutlich gegen bestehende „mittelbare Diskriminierungen“ durch den deutschen Gesetzgeber. Wir begrüßen diese Feststellung ganz ausdrücklich, insbesondere auch hinsichtlich der – wie sie es formulierten – „renitenten“ Missachtung solcher mittelbaren Diskriminierung durch die Gesetzgebung und die Rechtspolitiker. Wir stimmen mit Ihnen vollkommen überein, dass es nicht den Diskriminierten überlassen bleiben darf, gegen ihre Diskriminierung zu klagen, denn das wäre – und ist – eines zivilisierten Rechtsstaates unwürdig.

Hinsichtlich der „mittelbaren Diskriminierung nach dem Geschlecht“ dürfte Ihnen die Leitentscheidung des EuGH (Luxemburg) aus dem Mai 1986 (sog. „Bilka-Kaufhaus-Urteil“) nicht unbekannt sein. Der EuGH legte in dieser das Arbeitsrecht betreffenden Entscheidung Kriterien dafür fest, wann eine „mittelbare Diskriminierung nach dem Geschlecht“ vorliegt, und wie man diese ggf. mathematisch ermitteln kann, indem man die Anzahl der von einer Maßnahme negativ oder positiv betroffenen Personen des einen Geschlechtes ins Verhältnis setzt zur Anzahl der ebenso betroffenen Personen des anderen Geschlechts. Wenn sich aus dieser Verhältniszahl – bezogen auf die Grundgesamtheit – ein deutliches Missverhältnis zulasten eines Geschlechts ergibt, soll eine „mittelbare Diskriminierung nach dem Geschlecht“ vorliegen. Es ist naheliegend, dass diese Methode sehr gut geeignet ist, in allen Rechtsbereichen als Prüfmaßstab für „mittelbare Diskriminierung nach dem Geschlecht“ zu dienen.

Im deutschen Familienrecht existiert ein Bereich, in dem solch „mittelbare Diskriminierung nach dem Geschlecht“ ganz augenfällig ist. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu § 1671 BGB soll getrennt lebenden Eltern das gemeinsame Sorgerecht für ihre gemeinsamen Kinder dann nicht belassen bleiben, wenn sie sich nach ihrer Trennung über wesentliche Inhalte der Kindeserziehung nicht mehr in kindeswohldienlicher Weise verständigen können.

Stellt man die Anzahl der seit Inkraftsetzung des § 1671 BGB (im Juli 1998) unter dieser Rechtsprechung „entsorgten“ Elternteile des einen Geschlechts in Relation zu denjenigen „entsorgten“ Elternteilen des anderen Geschlechts, so ergibt sich – wie seinerzeit vom EuGH demonstriert – ein derartiges Missverhältnis zwischen den von der Grundrechtsbeseitigung betroffenen Elternteilen beider Geschlechter, dass sich § 1671 BGB als diejenige Quelle „mittelbarer Diskriminierung nach dem Geschlecht“ im Familienrecht schlechthin offenbart.

Mit welchen Mitteln wird das erreicht? Zum einen ist § 1671 BGB ja keine amtswegige Kindesschutznorm, wie z.B. §§ 1666, 1666a BGB, sondern wird nur dann virulent, wenn Eltern(teile) das dort vorausgesetzte Antragsrecht wahrnehmen. Da der Staat infolge § 1671 BGB nur tätig wird, um ein „streitiges Rechtsverhältnis“ zwischen den Eltern zu befrieden, und dazu lediglich das Innenverhältnis zwischen den Eltern zum Elternrecht regelt, ohne selbst sich an die Stelle der Eltern zu setzen, bedarf es als Voraussetzung für diesen staatlichen (konkret: familiengerichtlichen) Eingriff eines „Elternstreites“. Zur Herbeiführung dieses Streits wird den Eltern in der Norm des § 1671 BGB unter Verstoß gegen die Unveräußerlichkeit und Unverzichtbarkeit des Menschenrechtes (vgl. Art.1 Abs.2 GG) auf „Pflege und Erziehung“ der Kinder (vgl. Art.6 Abs.2 GG), das Recht eingeräumt, ohne jede rechtfertigende Voraussetzung die Beseitigung dieses Menschenrechtes, das ja über die §§ 1626 und 1631 BGB im elterlichen Sorgerecht eingebunden ist, von dem anderen Elternteil zu beantragen. Zu Recht wird diese Regelung daher von bindungsintoleranten - und damit partiell nicht erziehungsfähigen - Eltern(teilen) als ein „Rechtsanspruch auf Alleinsorge“ missverstanden. Vorhersehbar durch das Gesetz begünstigte Elternteile werden von ihren Anwälten und Anwältinnen auch dahingehend beraten. Auch die Jugendämter informieren häufig die in ihren Augen von dem Gesetz begünstigen Elternteile in diesem Sinne. Sodann wird dem danach beklagten Elternteil in der Norm eine Zustimmungsmöglichkeit zu dem Antrag des anderen Elternteils eingeräumt, obwohl Art.1 Abs.2 GG gerade die Unverzichtbarkeit eines solchen Menschenrechtes, wie es dem Sorgerecht innewohnt, bestimmt.

Jeder pflichtbewusste, erziehungsbereite und für sein(e) Kind(er) empathische Elternteil wird und muss die ungerechtfertigte Antragstellung durch den anderen Elternteil gemäß § 1671 Abs.1 BGB als Frontalangriff auf sein Grund- und Menschenrecht ansehen und auffassen, und wird dementsprechende Verteidigungs- und Abwehrpositionen beziehen. Damit provoziert § 1671 Abs.1 BGB gerade denjenigen „Elternstreit“, der zur Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs nach dieser Norm benötigt wird! Es ist Praxis der deutschen Familiengerichte, dass nach solcher Feststellung eines Elternkonflikts – unberücksichtigt wer ihn auslöste – über die Beseitigung des Mitsorgerechtes des beklagten Elternteils entschieden wird, jetzt aber nach ganz anderen Kriterien (sog. „Kontinuitäten“), als diejenigen, mit denen der Eingriff überhaupt gerechtfertigt wird.

In der Regel führt diese Rechtsprechung dazu, dass derjenige pflichtgemäß durch Erwerbsarbeit für seine Familie und Kinder sorgende Elternteil seines Grundrechtes entledigt wird, weil er bzw. sie dementsprechend für die Kindesbetreuung weniger zeitlich verfügbar ist. Die menschenrechtliche Scharlatanerie solcher (Un-)Rechtsprechung ist himmelschreiend! Dies äußert sich auch in der euphemistischen Floskel über die sog. „Übertragung des elterlichen Sorgerechtes“.

Denn tatsächlich wird dem dann (weiter) und allein-sorgeberechtigten Elternteil kein Recht und keine Pflicht übertragen, die er bzw. sie nicht bereits zuvor (wie auch der andere Elternteil) besaß. Ein(e) Alleinsorgeberechtigte(r) besitzt nach dem Eingriff gemäß § 1671 BGB kein(e) neues (neuen) oder zusätzliche Recht(e) und Pflicht(en), wie bereits vor dem Grundrechtseingriff bei dem anderen Elternteil. Lediglich der seines Sorgerechtes verlustig gehende Elternteil verliert sein Grund- und Menschenrecht auf „Pflege und Erziehung“ seines bzw. seiner Kinder. Durch den Euphemismus „Sorgerechtsübertragung“ soll offenkundig dieser brutale, niedrigschwellige und damit gänzlich unverhältnismäßige Grundrechtsverlust des beklagten Elternteils aufgrund der in § 1671 BGB gesetzlich ermöglichten Streitauslösung verschleiert werden.

§ 1671 BGB ist damit eine „self-fulfilling prophecy“! Bereits insoweit kann diese Norm daher als ein Rechtsmissbrauch unseres Grundgesetzes angesehen werden. Dass die praktische Anwendung dieses Gesetzes obendrein dann auch noch zur aufgezeigten „mittelbaren Diskriminierung nach dem Geschlecht“ führt, bekräftigt diese rechtliche Einschätzung, und lässt sogar vermuten, dass darin der eigentliche Normzweck besteht.

Wir würden es begrüßen, wenn Sie in ihren zukünftigen politischen Äußerungen dieses konkrete Beispiel „mittelbarer Diskriminierung nach dem Geschlecht“ aufgreifen würden. Wir sind uns allerdings bewusst, dass sie in ihrer amtlichen Funktion als Bundesverfassungsrichterin im für Familiensachen zuständigen 1. Senat des Bundesverfassungsgerichtes nur dann diesbezüglich regulierend tätig werden können, wenn aufgrund vorliegender geeigneter Verfassungsbeschwerden oder Richtervorlagen das Bundesverfassungsgericht zur Prüfung dieser Rechtsfrage berufen ist.

In der oben bereits zitierten FAZ.NET-Ausgabe äußerten Sie sich darüber hinaus zum gemeinsamen Sorgerecht „als allzu dominanter Regelfall“.

Angesichts des dem Sorgerecht über die §§ 1626 und 1631 BGB innewohnenden Menschenrechtes auf „Pflege und Erziehung“ der Kinder kann ihre Äußerung nur so verstanden werden, dass Sie sich damit gegen die Universalität dieses Menschenrechtes wenden. Angesichts ihrer neuen Position als Bundesverfassungsrichterin verstößt diese erstaunliche persönliche Positionierung einerseits gegen das Mäßigungsgebot (§ 39 DRiG), und verlangt andererseits nach einer Klarstellung, da diese Äußerung Ihre Unparteilichkeit und richterliche Unabhängigkeit als Verfassungsrichterin im maßgeblichen Senat von vornherein zweifelhaft erscheinen lässt.

Wir fordern Sie daher zu dieser Äußerung (Sorgerecht als „allzu dominanter Regelfall“) zu einer klarstellenden Stellungnahme für die gesetzesunterworfene deutsche Öffentlichkeit auf, um einerseits die aufkommenden Zweifel an ihrer richterlichen Unabhängigkeit möglichst auszuräumen, und um andererseits einen Ansehensschaden von unserem höchsten deutschen Gericht abzuwenden.

Wir sehen Ihrer Rückäußerung (bzw. Stellungnahme) in angemessener Zeit mit großem Interesse entgegen.

Mit freundlicher Hochachtung
Eckhard Kuhla
Vorstand