Samstag, September 18, 2010

Lesermail (Sarrazin-Debatte)

Eine Leserin meines Blogs hat mir via Facebook eine Mail zukommen lassen, die ich hier mit ihrer Erlaubnis gerne leicht gekürzt veröffentliche.

Lieber Herr Hoffmann,

ich möchte Sie nicht belästigen oder so, ich erwarte auch keine Antwort. Ich weiß nur ehrlich gesagt nicht, wem ich sonst schreiben soll.

Ich habe gerade auf Phoenix eine Debatte mit Thilo Sarrazin gesehen und kann nicht mehr aufhören zu heulen. Diese ganze Geschichte kommt mir sooo UNGLAUBLICH vor, so absolut unwahrscheinlich. Mein Fassungsvermögen reicht dafür nicht aus. Geschieht das alles wirklich? Jetzt gerade?

Ich lebe zur Zeit nicht in Deutschland und bin so unendlich froh darüber. (Ist das nicht schrecklich?) Ich bin nicht so eine Starke, Unerschrockene. Ganz ehrlich: Würde ich zur Zeit zu Hause sein, würde ich im Moment nicht auf die Straße gehen können. Allein der Gedanke. Es fühlt sich so furchtbar an. Als sei jemand Nahestehendes gestorben. Angst, Panik, Wut, Angst – ich bin soo eingeschüchtert, ich könnte meinen Kopf nicht gerade halten ... Ich hätte Angst davor, mit dem Bus zu fahren und nicht zu wissen ob ich für die anderen Freund bin oder Feind.

Wie soll ich DAGEGEN noch ankommen, anlachen, ankämpfen. Mir bleibt nur die Kapitulation. Ich kapituliere, das kann ich nicht, das schaff ich nicht. Ich kann nicht mehr preisen dafür, dass Muslime ganz normale Menschen sind! (Ich bin ja noch nicht mal eine Muslimin, aber wen interessiert das jetzt noch?). Wem soll ich jetzt noch begreiflich machen können, dass ich ein ganz normales Leben führe mit ganz normalen Eltern? Mit ZWEI ganz normalen Familien, einer deutschen und einer arabischen? Ich habe keine Heimat mehr. Ich bin so schrecklich traurig.

Ich habe keine Heimat mehr?! Ich bin sooooo deutsch!!! Oh mein Gott, deutscher geht es kaum noch. Aber ich bin stigmatisiert. Haarfarbe, Augenfarbe, Name ... Ich bin sehr glücklich, dass ich völlig frei aller Vorurteile in meiner Heimat aufwachsen durfte. (Allein das ist schon irre, das sollte ja wohl weiterhin das normalste von der Welt sein, irre!!!) Ich möchte heute unter diesen Vorraussetzungen nicht noch mal so aufwachsen und wünsche mir das erste Mal in meinem Leben ich wäre nicht die, die ich bin!

Sie kennen alle Verrücktheiten der Menschen, bestimmt sind Sie wütend, aber sicherlich zerbrechen Sie nicht. Ich habe Angst, dass ich dem nicht standhalten kann. Es scheint mir fast unmöglich.

Und ich verstehe das alles irgendwie auch nicht richtig. Ich weiß nicht, wen ich das fragen soll, aber: Wenn die Meinung von Thilo Sarrazin nicht rassistisch oder gar "nationalsozialistisch" sind? Was IST denn dann nationalsozialistisch?

Eva Herman hat es doch erklärt, 100mal und mehr, sie sei KEIN NAZI: Und ich glaube es ihr doch – aber wie passt denn das alles zusammen??? Wie kann sie denn Herrn Sarrazin unterstützen und gleichzeitig sagen, sie sei kein Nazi? Was übersehe ich denn?

Denken "Nazis", man ist nur Nazi, wenn es sich gegen Juden richtet? Wie kann man Nächstenliebe predigen, wenn ich davon ausgeschlossen sein soll? Wissen die nicht, wie es mir dabei geht? Und all den anderen Menschen? Verstehen Sie das?

Ihr Blog, geschätzter Herr Hoffmann, hilft mir jeden Morgen nicht zu verzweifeln. Ich bin froh, dass es Sie gibt, und ich hoffe, dass es Ihnen gut geht und wünsche Ihnen Glück und Liebe und Gesundheit, und das klingt vielleicht ein bisschen abgedreht, aber ich meine es so. Danke für alles.


Ich habe meiner Leserin ausführlich geantwortet, halte es aber für keine schlechte Idee, ihre Mail unabhängig davon hier online zu stellen. Anderen Muslimas, mit denen ich in Kontakt stehe, geht es sehr ähnlich. (Die männlichen Muslime scheinen solche Gefühle mehr zu überspielen und zeigen sich vor allem genervt.) Meinem Eindruck nach versinken einige "Islamkritiker" und andere Sarrazin-Anhänger momentan derart in ihrem Selbstmitleid darüber, dass unser Land nicht mehr so aussieht wie in den fünfziger Jahren, dass sie jegliches Einfühlungsvermögen dafür verloren haben, was ihre Aggressionen mittlerweile bei vielen ihrer Mitbürger anrichten. Während die Vollspaten natürlich auch durch die Inhalte dieses Blogs nicht mehr erreicht werden können, macht sich vielleicht wenigstens der eine oder andere Gedanken, der für solche Dinge noch empfänglich ist.