Montag, August 09, 2010

Avi Primor über Israelkritik und Antisemitismus

Mit einigem Interesse habe ich heute die Bücher "Aktueller Antisemitismus – ein Phänomen der Mitte" sowie Avi Primors und Christiane von Korffs "An allem sind die Juden und die Radfahrer schuld" quergelesen. Ersteres Buch stellt mit mehreren darin enthaltenen Aufsätzen dürftig als Wissenschaft verbrämte Propaganda dar: Deren Autoren setzen als unhinterfragbares Axiom, dass ihre zustimmende Haltung zur israelischen Politik die richtige ist und abweichende Meinungen, ob sie von jüdischen Kritikern stammen oder nicht, "offensichtlich" Antisemitismus darstellen. Wenn sich also etwa jemand über das Leiden von Palästinensern besorgt zeigt oder eine israelkritische Meinung äußert, wird das mit viel grusligem Fachkauderwelsch pathologisiert. Dabei kommen Sätze heraus wie diese:

"Diese Bewertungsasymmetrie zieht sich kontinuierlich durch die Argumentation und geht mit massiven Realitätsverdrängungs- und Ausblendungsprozessen einher. Das Ergebnis ist eine Dämonisierung und kognitive De-Realisierung Israels, welche die Grundlage für die extremen Negativemotionen ist.


Dass die "extremen Negativemotionen" etwa auch anhand von Rot-Kreuz-Berichten über das Leiden der Palästinenser im Gazastreifen entstehen könnten, kommt den Autoren erst gar nicht in den Sinn. Was die "Realität" ist, das wissen sie alleine, Menschen mit anderer Wahrnehmung verweigern sich dieser Erkenntnis böswillig. Das Buch bleibt mit solchen Sätzen natürlich akademische Selbstbefriedigung; bei Amazon steht es derzeit auf Verkaufsrang 1.179.621, was bei diesem aktuellen Reizthema schon eine Leistung ist.

Wesentlich angenehmer und überzeugender die klaren Worte, die Avi Primor findet, um beispielsweise Norbert Blüms (später mit Bedauern zurückgenommene) Äußerung zu beanstanden, Israel führe einen "Vernichtungskrieg" gegen die Palästinenser:

Sicherlich hat jeder das Recht, seine Meinung frei zu sagen. Meinungsfreiheit bedeutet jedoch nicht, dass man groteske Lügen äußern darf. Lügen, die nicht nur den anderen beleidigen, sondern ihn auch physisch gefährden, indem sie Extremisten aufhetzen und zur Tat schreiten lassen. Das Ziel eines Vernichtungskrieges ist die Ausrottung einer Bevölkerung. An diesem Ziel haben die Nazis gearbeitet.


Dass Israel entgegen der Genfer Konvention die palästinensische Zivilbevölkerung angriff und 1300 Menschen tötete

ist furchtbar. Dennoch ist es absurd, von einem Vernichtungskrieg zu sprechen. Im Gazastreifen leben anderthalb Millionen Menschen. Die Überlegenheit der israelischen Armee ist derart gewaltig, dass ihr nichts im Wege gestanden hätte, wenn sie die gesamte Bevölkerung hätte niederwalzen wollen. Genau das würde Vernichtungskrieg bedeuten. Das Ziel der israelischen Armee war jedoch, die Hamas zu bekämpfen (...). (Die israelischen Soldaten) erhielten den Befehl, eigene Verluste zu vermeiden, was für sie bedeutete, auch aus der Entfernung auf Zivilgebäude, in denen Gefahr lauerte, zu schießen, um kein Risiko einzugehen. Als sie im Nachhinein erfuhren, wie groß der "Kollateralschaden" war, den sie angerichtet hatten, indem sie Zivilisten töteten, die keine Hamas-Kämpfer waren, fühlten sie sich betroffen und hilflos.


Natürlich kann man auch zu Primors Darstellungen eine Gegenposition einnehmen, und ich habe hier mehrfach erklärt, warum ich das derzeitige Verhalten der israelischen Regierung für moralisch sehr fragwürdig halte. Aber Primor überzeugt zumindest mich durchaus, wenn es darum geht zu argumentieren, inwiefern Vokabeln wie "Vernichtungskrieg" überbordend und in der Sache nicht hilfreich sind.

Vielleicht liegt Primors überzeugende Kraft auf mich auch darin, dass er – anders als so viele bloggende Verteidiger Israels – eben nicht die argumentative Abkürzung nimmt, sämtlichen Kritikern dieses Landes Antisemitismus zu unterstellen. Eigentlich geht es in Primors Buch um irrige Vorurteile gegen Juden, aber zum Ende hin widmet er ein ganzes Kapitel dem Fehlurteil, insbesondere in Europa steige der antisemitische Phoenix wieder aus der Asche. Dazu zitiert Primor viele Befragungen und Studien die belegen, dass die Ablehnung von Juden im Lauf der Jahrzehnte auf unserem Kontinent immer weiter zurückgegangen ist – weit stärker als gegenüber anderen Minderheiten, etwa Arabern und Afrikanern. Vor allem aber zeigt Primor auf, warum es ein Missverständnis ist, Kritik an Israel fast grundsätzlich als verkappten Antisemitismus wahrzunehmen. Dazu erinnert er an die Situation Anfang der neunziger Jahre:

In Europa kam es so weit, dass zum ersten Mal in der Geschichte Sanktionen gegen den Staat Israel verhängt wurden, nämlich von der Europäischen Kommission. In Israel entwickelte sich eine Belagerungsstimmung. Ein Großteil der Israelis stand unter dem Eindruck, die ganze Welt sei gegen Israel und schon wieder hebe der weltweite Antisemitismus sein Haupt gegen die wenigen Juden, die sich schließlich nur verteidigten. 1993 trafen sich die Israelis und Vertreter der palästinensischen PLO zunächst im Geheimen in der norwegischen Hauptstadt Oslo. Das Ergebnis der Zusammenkünfte war die gegenseitige Anerkennung und die Unterzeichnung eines Vertrags, mit dem ein allgemeiner Friedensprozess zwischen beiden Seiten ins Leben gerufen werden sollte. Wie von einem Zauberstab dirigiert, schlug die Stimmung ins Gegenteil um. Auf einmal war Israel zum Lieblingskind der Welt und vor allem Europas geworden. Die Sanktionen gerieten unmittelbar in Vergessenheit. Die Europäische Union unterbreitete alle möglichen Angebote, Assoziierungsverträge mit Israel zu entwerfen und zu entwickeln. Israels Spitzenpolitiker wurden über Nacht zu höchst erwünschten Ehrengästen in den Metropolen der Welt und besonders in Europa. Hätten der scharfen Kritik an der israelischen Politik zwischen 1987 und 1993 rassistische, also antisemitische Beweggründe zugrunde gelegen, so hätte der Oslo-Prozess nichts daran ändern können. (...) Ist aber eine bestimmte Politik die Zielscheibe dieser Kritik, so verflüchtigt sich diese, sobald die Politik sich ändert. In der Geschichte des Staates Israel ist genau dies immer wieder der Fall gewesen, ebenso wie bei vielen anderen Staaten auch. (...) Kaum eine Regierung ist in Europa populärer gewesen als die israelische des Jahres 1993 nach Beginn der Osloer Friedensverhandlungen und dem historischen Handschlag zwischen Rabin und Arafat in Washington. Wir alle erinnern uns auch, wie erschüttert Europa und die ganze Welt auf die Ermordung Rabins reagierten. Nirgends zeigte sich damals irgendeine Freude angesichts der Ermordung einer jüdischen Führungspersönlichkeit.


Und auch das finde ich sehr überzeugend.