Sonntag, Dezember 06, 2009

Schweiz kopflos: Die Irrationalität hat jetzt Verfassungsrang

Warum sind letztes Wochenende Schweizer reihenweise ausgetickt und stimmten für ein Minarett-Verbot und damit gegen die Religionsfreiheit? Die psychologischen Hintergründe erklärt Lukas Bärfuss in der Frankfurter Allgemeinen. Ein Auszug:

Es ist die Tragik der vergangenen zwei Jahrzehnte, dass die Schweiz immer noch an der Konstruktion einer latenten Bedrohung arbeitete, als sich diese längst in konkrete, fassbare Angriffe verwandelt hatte. Viel zu sehr mit Spiegelfechtereien beschäftigt, besaß sie keine Mittel, sich gegen den wachsenden Druck aus dem Ausland zu wehren. Ob in den Debatten um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg oder jener um die internationale Kritik am Bankgeheimnis: Die Schweiz reagiert kopflos, ohne Plan und ohne Strategie. Innerhalb weniger Wochen wurde durch die Herausgabe von Akten an die amerikanischen Steuerbehörden zuerst die Unabhängigkeit der Justiz aufgegeben und schließlich das Bankgeheimnis fallengelassen. Die Behörden hielten diese Zumutungen für verkraftbar, schließlich regiert man hierzulande im Bewusstsein, dass der Kleinstaat nur als Opportunist seine Interessen vertreten kann.

In der Bevölkerung allerdings schlugen diese Angriffe Wunden. Die Kränkung, jedem äußeren Druck nachgeben zu müssen, sitzt tief. Deshalb ist das Abstimmungsresultat zur Minarettfrage auch als Ausdruck einer trügerischen Hoffnung zu begreifen, vor den konkreten Zumutungen der Globalisierung in die Irrationalität einer diffusen, aber identitätsstiftenden Bedrohung durch den politischen Islam fliehen zu können.

Quer durch alle Parteien waren es die Frauen und die Jungen, die besonders häufig ja zu dieser Initiative sagten, was belegt, dass die Angst, die von der Rechten in die politische Debatte eingeführt wurde, endgültig zum Mainstream und zum bestimmenden Faktor in der Politik geworden ist. Der Mensch ist nicht nur ein rationales Wesen, und eine Gesellschaft muss Möglichkeiten finden, mit ihren Ängsten umzugehen, Rituale entwickeln, um ihnen einen Platz zu geben und sie zu bannen. Die Schweiz hat sich dafür mit dem Volksentscheid allerdings das denkbar ungeeignetste Instrument gesucht. Statt die Irrationalität zu neutralisieren, wurde sie nun institutionalisiert und in Verfassungsrang gehoben.


Der Artikel ist in Gänze lesenswert – und verrät ganz nebenbei auch einiges über die psychologischen Hintergründe der Islamophobie in Deutschland.