Sonntag, Juli 26, 2009

Buchvorstellung: "Zwischen Antisemitismus und Islamophobie. Vorurteile und Projektionen in Europa und Nahost"

Nach einer Lesung aus ihrem Buch Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte", in der sie sich mit der NS-Vergangenheit ihrer Großeltern auseinandergesetzt habe, berichtet Alexandra Senfft, sei ein älterer Herr aus dem Publikum auf sie zugetreten: "Er bedankte sich für meine Arbeit und kam dann auf die von mir vorgetragenen Auszüge aus meinem letzten Kapitel zu sprechen. Ich hatte darin über die Funktion von Feindbildern und Sündenböcken, über gesellschaftliche Polarisierungen sowie über die Dynamik von Schuldzuweisungen und Schuldabwehr nachgedacht. Warum ich neben Antisemitismus und Rassismus auch Islamophobie erwähnt hätte?, fragte der Herr. In diesem Punkt könne er mir nicht zustimmen, fuhr er sogleich fort, und bevor ich antworten konnte, belehrte er mich auch schon über die Gefahren des Islam. Während er auf mich einsprach, zog er mit einer missionierend wirkenden Geste eine ältere Ausgabe des SPIEGEL aus seiner Tasche – 'Mekka Deutschland. Die stille Islamisierung' lautete der Titel, den er mir provokativ vor die Nase hielt. Das Titelbild zeigte einen türkischen Halbmond über dem Brandenburger Tor. Meine Versuche, ihn zu bremsen und zu differenzieren, prallten an seiner Erregung ab. Ich hatte den Eindruck, hier fand eine Übertragung statt: Die NS-Vergangenheit scheinbar bearbeitet, hatte dieser Mann ein neues Feindbild geschaffen – die Muslime und den Islam. Es erübrigt sich fast zu erwähnen, dass er auch die 'multikulturelle Gesellschaft' in Deutschland für gescheitert erklärte."

Dieser Bericht stammt aus dem Vorwort der von Alexandra Senfft und John Bunzl herausgegebenen Anthologie Zwischen Antisemitismus und Islamophobie. Vorurteile und Projektionen in Europa und Nahost. Die beiden Leitfragen dieses Buches, in dem Aufsätze internationaler Fachleute von Boston und London über Kairo und Tel Aviv bis zu Bremen und Wien gesammelt sind, lauten: Gibt es einen "Neuen Antisemitismus" – und was ist darunter zu verstehen? Gibt es das Phänomen der "Islamophobie" – und wie kommt es zum Ausdruck? Dabei widmet sich etwa die Hälfte der Beiträge der Situation in Europa, die andere Hälfte dem Konflikt im Nahen Osten zwischen Israel und den Palästinensern. Wenn Alexandra Senfft in ihrem Einleitungsabsatz bereits den psychoanalytischen Begriff der "Übertragung" verwendet hat und im Titel des Buches den sinnverwandten Begriff der "Projektion", dann ist dies richtungsweisend für den gesamten Band: denn um Verschiebungen und Rollenwechsel, ob auf psychologischer Ebene oder real, geht es in zahlreichen Beiträgen.

Fünf solcher Beiträge möchte ich in dieser Rezension beispielhaft vorstellen.

1.) Matti Bunzl: "Zwischen Antisemitismus und Islamophobie"

Der Professor für Anthropologie Matti Bunzl hatte mit Antisemitism and Islamophobia. Hatreds Old and New in Europe bereits 2007 eine ebenfalls lesenswerte englischsprachige Anthologie zu diesem Thema zusammengestellt. In seinem aktuellen Beitrag knüpft Bunzl an die in diesem Vorgängerband ausgeführte These an, während das Judentum zur Hochphase des europäischen Antisemitismus als Bedrohung für die Reinheit des Nationalstaats betrachtet wurde, werde aktuell der Islam als Bedrohung für das geeinte Europa präsentiert. Dementsprechend gebe es heutzutage zahlreiche Konferenzen und Regierungserklärungen, in denen man sich dem bedingungslosen Kampf gegen den Neuen Antisemitismus und für das Existenzrecht Israels verschriebe. Wo der europäische Nationalstaat politisch hinfällig geworden ist, gilt dasselbe für den Antisemitismus. Für Islamophobie hingegen existiere bislang kein entsprechendes Problembewusstsein.

Dies sei um so bedenklicher, als die verschiedenen rechtsradikalen Parteien Europas längst vom Feindbild Jude zum Feindbild Moslem umgeschwenkt seien. Bunzl verdeutlicht dies an Österreichs FPÖ: "Als die Freiheitliche Partei ihren traditionellen Nationalismus Mitte der 1990er Jahre aufgab, fasste sie ein neues Projekt ins Auge. Statt zur Hüterin der ethnischen Gemeinschaft stilisiert sie sich nun zur Bewahrerin Europas. (…) Mit Slogans wie 'Stopp der Überfremdung' erzeugte die FPÖ Angst vor Islamisierung und bot sich als ihr Bekämpfer an. Juden wurden, wenn überhaupt, als Verbündete im Kampf um Europas Zukunft interpretiert. 'Aus dem Bereich meiner jüdischen Freunde", erklärte ein prominenter Politiker der FPÖ im November 1999, 'erlebe ich, dass die entsetzt sind, entsetzt über das hohe Maß an muslimischer Präsenz'." Dabei könne die FPÖ mit dieser Linie durchaus politische Erfolge vorweisen. So standen vor den Europawahlen 2004 die mit der FPÖ konkurrierenden Parteien einem Beitritt der Türkei aufgeschlossen gegenüber. Nachdem die FPÖ dieses Thema in Gestalt einer offen islamophoben Diskussion zum Schwerpunkt ihres Wahlkampfs machte, konnte sich die Parteivorsitzende Ursula Haubner schließlich damit brüsten, dass die anderen Parteien schließlich auf die Linie der FPÖ eingeschwenkt seien.

Bunzl betrachtet diese Entwicklung mit Sorge. Für die Figuren des rechten Flügels seien "Muslime Träger einer grundlegend anderen Kultur und daher in keiner Weise anpassungsfähig. Um seinen Charakter und seine Größe zu bewahren, muss Europa ihrer Ansicht nach eine Barriere errichten, sei es gegen die Mitgliedschaft der Türkei in der EU oder den weiteren Zustrom von Immigranten aus Nordafrika oder dem Nahen Osten. Die Unterstützung für diese islamophoben Positionen wächst, und wenn sie Oberhand gewinnen sollte, hätte dies enorme geopolitische Konsequenzen. Nicht nur würde es die vielversprechenden Reformen in der Türkei zum Stillstand bringen, es würde auch zu einer neuen Radikalisierung führen, sowohl in Europa wie in der islamischen Welt, wo mehr und mehr junge Muslime 'heilige Krieger' in einem endlosen Kampf der Zivilisationen werden würden. Eine weitere Zunahme des Antisemitismus wäre dann unser geringstes Problem."

2.) Brian Klug: "Die Sicht auf Israel als 'Jude der Welt'"

In seinem Beitrag beschäftigt sich Klug mit der von Alan Dershowitz und anderen aufgestellten These, Israel sei "der Jude unter den Staaten der Welt". Diese führte zu einer vielfältigen Literatur zum "Neuen Antisemitismus", die Klug allerdings als eine "Verkürzung der Polemik" erachtecht: "eine Mischung aus Verallgemeinerungen, emotionaler Sprache, tendenziösen Beschreibungen und rhetorischen Fragen", die alle dem Zweck dienten, Kritik an Israels Politik als aktuelle Mutation des Judenhasses zu verumglimpfen. Klug kann sich diesem Diskurs nicht anschließen: Während für den Antisemitismus die Macht- und Wehrlosigkeit der einzelnen Juden essentiell sei, bestehe Israels Problem keineswegs in seiner Machtlosigkeit, sondern im genauen Gegenteil.

Dies veranschaulicht Klug an einer Szene, die Sara Roy in ihrem Essay "Living with the Holocaust" geschildert habe: "Es war ihr erster Besuch in den besetzten Gebieten. Das Bild ist lebendig und verstörend: Ein israelischer Soldat zwingt einen alten palästinensischen Mann, das Hinterteil seines Esels zu küssen, demütigt ihn vor seinem Enkelsohn und einer Gruppe weiterer Palästinenser, während andere israelische Soldaten zusehen und lachen." Klug zitiert auch Roys naheliegende Assoziation: "Ich dachte sofort an die Geschichten, die meine Eltern mir über die Behandlung von Juden durch die Nazis in den 1930er Jahren, bevor es Ghettos und Todeslager gab, erzählt hatten, darüber, wie Juden gezwungen wurden, Bürgersteige mit der Zahnbürste zu reinigen und wie ihre Bärte in aller Öffentlichkeit abgeschnitten wurden."

Offenbar werden hier erlittene und allgemein internalisierte traumatisierende Gewalterfahrungen an die nächste Generation weitergegeben und diese getreu etwa Henryk Broders Motto ausagiert, es mache mehr Spaß, Täter als Opfer zu sein. Der psychologische Mechanismus, der sich hier abspielt, könnte auch erklären, dass manche rechtsradikale Juden heute in ähnlicher Weise gegen Muslime hetzen wie früher die Antisemiten gegen die Juden. Klug zitiert hierzu den KZ-Überlebenden und israelischen Schriftsteller Primo Levi: "Jeder ist irgendjemandes Jude – und heute sind die Palästinenser die Juden der Israelis."

3.) Paul Silverstein: "Der Zusammenhang von Antisemitismus und Islamophobie in Frankreich"

In Deutschland besteht weitgehend ein sehr vages Bild von gewalttätigen, randalierenden muslimischen Jugendlichen, die in unserem Nachbarland Frankreich judenfeindliche Parolen brüllen. Da man als deutscher Mediennutzer kein anderes Deutungsmuster zur Verfügung gestellt bekommt, greift man schnell nach dem scheinbar einzigen, das sich anbietet: Der Islam bringt die Menschen zur Raserei. Und gerne greift mancher zu obskuren Theorien, denen zufolge wegen der auch bei uns hohen Zahl an muslimischer Einwanderer sicher auch in Deutschland bald ein Bürgerkrieg drohe.

Silverstein hingegen analysiert die Hintergründe der muslimischen Jugendgewalt in Frankreich. Dazu verweist er zunächst auf die "mörderischen Sommer" ("étés meurtriers"), die in den Jahren zwischen 1973 und 1983 unter nordafrikanischen Einwanderern und ihren Familien nahezu 50 Menschenleben kosteten. Es handelte sich dabei um organisierte Übergriffe insbesondere auf algerische Einwanderer – Übergriffe, die man als "ratonnade" ("Rattenjagd") bezeichnete: "In sportlich anmutender Manier (vielleicht am ehesten ähnlich der aristokratischen Tradition der Fuchsjagd zu sehen) geht hierbei eine Gruppe weißer 'beaufs' (…) auf die die "Ratte" (raton) los, schlägt denjenigen zusammen, vernichtet seine Personal- oder Arbeitspapiere (was ihn in Frankreich zu einem illegalen Einwanderer macht) und überlässt ihn seinem Schicksal." In den frühen 1980er Jahren stellten nicht mehr erwachsene Gastarbeiter sondern Einwandererkinder die Hauptbeute der Jäger dar: "Anstatt von einer Meute gehetzt zu werden, wurden diese Kinder, wenn sie auf den Spielplätzen in den Sozialbausiedlungen spielten, nach Heckenschützenmanier beschossen; zumeist waren es Anwohner (überwiegend ältere weiße Männer), die aus dem Fenster heraus auf Kinder 22-er Gewehre anlegten, wie man sie normalerweise zur Jagd benutzen würde."

Die meisten Einwanderer versuchten sich zunächst mit gewaltfreien Mitteln politischer Proteste gegen diese Verbrechen zu wehren. So fanden sich 1983 bei einem "Marsch der Gleichheit und gegen Rassismus" von Marseille bis Paris mehr als 100.000 Demonstranten zusammen. Einige empfanden solche Aktionen allerdings als ineffektiv. Wenn ein rassistischer Angreifer für seine Tat nicht bestraft wurde, weil ihn die Polizei schützte oder der Täter selbst ein Polizist war, richtete sich die Wut der Jugendlichen auf die Polizei als ganzes. Anfang der neunziger Jahre entwickelten sich die Zusammenstöße allmählich zu Unruhen, nachdem es einige besonders tragische Todesfälle gegeben hatte. (Beispielsweise wurde der 18jährige Djamel Chettouh von einem Sicherheitsmann erschossen und der ebenfalls 18jährige Aissa Ihich erstickte im Polizeigewahrsam, weil die Beamten ihm seine Asthma-Medkamente verweigerten.) 1999 reagierte der damalige Premierminister Lionel Jospin auf die gewachsenen Unruhen, indem er 13.000 Bereitschaftspolizisten und 17.000 Militärpolizisten für Patrouillengänge in den "sensiblen Ballungsräumen" zusammenzog. 2003 erhöhte Sarkozy im Rahmen seiner "Recht-und-Ordnung"-Politik die Truppenstärke der Sicherheitskräfte nochmals und versah diese Krifte mit zusätzlichen Befugnissen für Haus- und Fahrzeugkontrollen, womit er letztlich die Militarisierung der Vorstädte abschloss. Versammlungen in den Garagen oder Eingangsbereichen der Sozialbausiedlungen wurden von da an kriminalisiert.

Infolge der so entstandenen Eskalationsspirale wurde der "Konflikt der Kulturen" zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Silverstein erklärt nun den psychologischen Prozess, der sich in den Köpfen vieler muslimischer Einwanderer abspielte: "Wenn französische Maghrebiner als Muslime die Ereignisse des 11. September wahrnehmen, die amerikanische Besetzung von Afghanistan oder des Irak oder auch die Zweite Intifada, sehen sie zunehmend auch ein Abbild des Kampfes, den sie in ihrem täglichen Leben führen. Trotz der offensichtlichen diplomatischen und politischen Unterschiede zwischen Frankreich und den USA ziehen junge französische Muslime implizit eine Parallele zwischen den amerikanischen Streitkräften, den israelischen IDF und der französischen Bereitschaftspolizei." Die Folge davon sei der heute beklagte "neue Antisemitismus", wobei Silverstein darauf hinweist, dass dieser nur in einem Drittel der aufgeklärten Fälle von muslimischen Jugendlichen ausging. Und während es zutreffend sei, dass im Jahr 2004 ein beträchtlicher Anstieg (um die 50%) bei den antisemitisch motivierten Vorfällen zu verzeichnen war, stiegen im gleichen Zeitraum andere Formen von Rassismus und Fremdenhass um 150% an, wobei die meisten Vorfälle gegen die muslimische Bevölkerung gerichtet waren.

4.) John Bunzl: "Spiegelbilder – Wahrnehmung und Interesse im Israel-Palästina-Konflikt"

John Bunzl, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Wien und Nahost-Experte des Österreichischen Institus für Internationale Politik, beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem Phänomen, dass eine wachsende Sympathie mit Israels Widersachern im Nahost-Konflikt vom israelischen Establishment, jüdischen Gemeinden und amerikanisch-jüdischen Organisationen als "neue Welle von Antisemitismus" gebrandmarkt wird. Bunzl erklärt sich den Eifer, diese Deutung durchzusetzen, zum einen mit einer aktuellen Konkurrenz verschiedener Minderheiten um den legitimeren Opferstatus, zum anderen mit dem Versuch, nach dem 11. September 2001 Israel und die Juden als Partner im Kampf gegen den islamischen Terrorismus zu präsentieren. Bunzl beobachtet derzeit von Seiten des offiziellen Israel die Tendenz, alle Formen von Kritik, Ablehnung und Widerstand auf "Antisemitismus" zurückzuführen, wobei selbst Angriffe von Palästinensern so gedeutet werden, als erfolgten diese Angriffe nur weil die Isrealis Juden seien. Bunzl kommentiert: "Die Übertragung von bzw. Identifkation mit traditioneller Judeophobie auf die heutigen Formen von Kritik an und Widerstand gegen Israel rationalisiert eine Unwillig- bzw. Unfähgkeit, sich mit diesen Gründen auseinanderzusetzen. Was kann man gegen 'Antisemitismus' schon tun?"

Bunzl sieht in der Staatsgründung Israels durch westliche Einwanderer bei gleichzeitiger Verdrängung der ursprünglichen Bewohner einen kolonialen Prozess. Dieser "bedarf sowohl einer physischen als auch einer ideologischen Dimenson; denn derjenige, der den demographischen und machtpolitischen Status quo zu seinen Gunsten verändert, braucht auch eine Rechtfertigung dafür. Daher finden wir seit den Anfängen der zionistischen Bewegung eine Interpretation des arabischen Widerstands als grundlose Gewalt – oft kulturalistisch essentialisiert -, während das eigene Vorgehen als Gegengewalt verstanden oder dargestellt wird." Man braucht sich heute nur typische einseitig pro-israelische Blogs anzuschauen, von "Politically Incorrect" über den "Spirit of Entebbe" bis zu Gideon Böss "Fuchsbau", um diese Rhetorik wiederzufinden. Viele der dortigen Veröffentlichungen erinnern an Legitimisierungsversuche der Kolonialisierung im vorvergangenen Jahrhundert.

Eine ähnliche Perspektive verortet Bunzl im Lager der antideutschen Linken (man denke hier an Blogs wie "Lizas Welt" und Zeitschriften wie "jungle world" und "konkret"), wobei er auf eine umfassende Studie von Robert Kurz über deren Ideologie verweist: "Kurz kommt zu dem Schluss, dass die antideutsche Über-Identifikation mit Israel nichts über Israel, jedoch viel über die Anti-Deutschen aussagt. Letzteren geht es nicht um den Nahostkonflikt als solchem, auch nicht um Israel, das nicht in seiner historischen Realität wahrgenommen wird, sondern als Gegenpol zum Deutschtum fungiert. Er nennt es eine falsche, neurotische Identifikation, die man mit (eingebildeter) Verliebtheit und/oder Idealisierung vergleichen könnte. Eine ähnliche Geisteshaltung liegt bei vielen Deutschen und Österreichern vor, die in den letzten Jahrzehnten zum Judentum übergetreten sind, weil sie die individuelle und kollektive Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit überfordert hat. Dafür 'dürfen' nun Palästinenser, Araber, Muslime und Linke als Träger des angeblich überwundenen Eigenen phantasiert und – mit dem Eifer des Neubekehrten – gehasst werden. (…) Wenn Israel das jüdische Trauma repräsentiert, müssen die Palästinenser den deutschen Wahn verkörpern. Die Kolonisierung, Entwurzelung, Enteignung und Unterdrückung der Palästinenser kommen im antideutschen Diskurs sicherheitshalber erst gar nicht vor. Hier liegt wohl der schwerwiegendste Konstruktionsfehler im Gedankengebäude der Antideutschen. Theoretisch abgesichert wird dieser Fehler in Schriften von Autoren, die in diesem Kontext, aber auch im Zeichen des 'Clash of Civilizations' letztlich eine Dämonisierung des Islam betreiben." Als Beispiel wird hier Mathias Küntzel genannt.

Bunzl verweigert sich allerdings einer einseitigen Betrachtungsweise und merkt an, dass auch die islamistische Ideologie Feindbilder vergangener Konflikte übernahm, um die eigene Position zu überhöhen. So schöpften etwa islamistische Antizionisten auch aus dem Repertoire des europäisch-christlichen Antisemitismus. Bunzl zufolge erkennen Vertreter beider Seiten (Isreal/Juden und Araber/Muslime) die Leidensgeschichte des jeweiligen Gegenübers nicht an, sondern bestehen trotzig auf der eigenen Opferolle. Wo Israel sich mit einer Aufarbeitung der "Nakba", der Vertreibung der Palästinenser, entziehe, denunzierten viele Muslime die weltweite Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Massenverbrechen als "zionistische Verschwörung". Ideologen beider Seiten machten mit einer narzisstischen Instrumentalisierung und Monopolisierung des eigenen Leids die Anerkennung anderer, gar selbstverschuldeter Leiden unmöglich. Wie aber könne man die Anerkennung eigener Traumata verlangen, während man sich weigere, die Traumata des anderen zu berücksüchtigen? Zu verlangen, dass der Holocaust als Tatsache anerkannt wird, bedeute keineswegs zu entschuldigen, was der Zionismus den Palästinensern angetan hat.

In seinem Fazit kann sich Bunzl der These, die gegenwärtig verstärkte Israelkritik stelle einen "neuen" bzw. "islamischen" Antisemitismus dar, nicht anschließen. Dabei argumentiert er wie folgt: "Hätten die Zionisten beschlossen, etwa Argentinien zu kolonisieren, wäre es dann auch zum Ausbruch des 'islamischen Antisemitismus' gekommen? Wäre, sagen wir, Palästina von römisch-katholischen Franzosen kolonisiert worden, hätte der Widerstand dagegen nicht auch anti-christliche Formen angenommen und z. B. aus Erinnerungen an die Kreuzzüge geschöpft? (…) Und zuletzt: Wenn die Vorkämpfer gegen den 'neuen' und 'islamischen' Antisemitismus Recht hätten, was folgt daraus? Ein Krieg gegen den 'Antisemitismus' im Stil des 'Kriegs gegen den Terror'?" Sinnvoller sei eine Auseinandersetzung mit den Ursachen des gegenseitigen Hasses, wobei allerdings ein Grund für die gegenwärtige Aufregung um den "neuen Antisemitismus" darin bestehe, diese Auseinandersetzung zu vermeiden.

5.) Michael Rothberg: "Der Holocaust, Kolonialfantasien und der Israel-Palästina-Konflikt"

Den inhaltlichen Höhepunkt des Buches stellt Michael Rothbergs Kapitel über "multi-direktionale Erinnerung" dar. Hinter diesem sperrigen Begriff verbergen sich miteinander verquickte Formen von Erinnerung an unterschiedliche historische Ereignisse. Man muss ein wenig ausholen, um verständlich zu machen, was damit gemeint ist.

Im Juni 2003, schildert Rothberg, reisten die beiden britischen Parlamentsmitglieder Oona King (eine Jüdin) und Jenny Tonge mit der Organisation Christliche Hilfe nach Israel und in die besetzten Palästinensergebiete. Über das, was sie dort sahen, schrieben sie einen Bericht, der später im britischen "Guardian" veröffentlicht wurde. Darin hieß es: "Die Gründer des Staates Israel können sich die Ironie in Bezug auf das heutige Israel nicht vorstellen: Mit ihrer Flucht aus dem Feuer des Holocaust haben sie ein anderes Volk in eine Hölle gesperrt, die in ihrer Art – wenn auch nicht in ihrem Ausmaß – an das Warschauer Ghetto erinnert."

Selbstverständlich wurde dieser Vergleich sowohl in Israel als auch in England heftig zurückgewiesen. Dem unbenommen, führt Rothberg aus, haben Bezüge auf das Warschauer Ghetto eine lange Tradition im Nahostkonflikt: Sei es, dass der Kibbuzleiter Yitzhak Tabenkin den Sechstagekrieg von 1967 als "Fortführung der Ghettoaufstände" bezeichnete, sei es, dass ein israelischer General mit Blick auf die Eroberung palästinensischer Gebiete befindet, die israelische Armee habe "wie die deutsche Armee im Warschauer Ghetto gekämpft". Erinnerung an historische Schrecken wird also aus ganz unterschiedlichen Positionen heraus auf die Gegenwart übertragen. Ob speziell diese Art der Übertragung statthaft ist, ist bekanntlich hochumstritten. Die einen sehen darin eine Relativierung des Holocaust, andere argumentieren, dass die Fixierung auf den Völkermord der Nazis von anderen historischen Tragödien ablenke, wenn sie nicht gar einen Schutzschild darstelle, hinter dem manche Regierungen ihre eigene Vergangenheit – und Gegenwart – zu verstecken suchen.

Rothberg berichtet, dass der Holocaust besonders während der Amtszeit Menahem Begins ein Eckpfeiler des israelischen Selbstverständnisses und der Politik des Landes gewesen sei. So habe Begin Yassir Arafat häufig mit Hitler und die Charta der PLO mit "Mein Kampf" verglichen. ("Hitler" scheint grundsätzlich der aktuelle Opponent der israelischen Regierung zu sein: vorgestern Arafat, gestern Saddam Hussein, heute Ahmadinedschad.) Begins aggressive Instrumentalisierung des Holocaust habe schließlich zu dem berühmten Ausspruch von Amos Oz geführt: "Hitler ist schon tot, Herr Premierminister."

Daraufhin verteidigte Herzl Rosenblum, Herausgeber der Zeitung "Yediot Ahranot", Begin mit folgendem mehr als bemerkenswerten Text: "Arafat, hätte er nur genug Macht, würde uns Dinge antun, die selbst Hitler sich nicht hätte vorstellen können … Tötete Hitler uns mit einer gewissen Zurückhaltung – käme Arafat jemals an die Macht, er würde in solchen Dingen nicht nur spielen. Er würde die Köpfe unserer Kinder mit einem Kampfschrei abschneiden, unsere Frauen öffentlich vergewaltigen und sie anschließend in Stücke reißen, er würde uns von den Dächern auf die Straße werfen und uns wie hungrige Tiger im Dschungel häuten, wo immer er uns fände, und das alles ohne deutsche 'Befehle' und ohne Eichmanns organisierte Transporte."

Hölle, was macht man mit so einem Text – einem Text, in dem der Auseinandersetzung mit Arafat zuliebe davon schwadroniert wird, dass Hitler Millionen von Juden "mit einer gewissen Zurückhaltung" umgebracht und "in solchen Dingen nur gespielt" habe? Rothberg verwendet diese Phantasmagorie dazu, die Kernthese seines Beitrags auszuführen, nämlich, "dass die Existenz apokalyptischer Kolonialfantasien neben der Holocausterinnerung eine enge und beunruhigende Verbindung zwischen europäischen und israelischen Subjekten und Landschaften beweist."

Rothberg führt seine Gedanken folgendermaßen aus: "Rosenblums Text mobilisiert neben Holocausterinnerungen und politischer Aktualität auch koloniale Fantasien von Enthauptungen, wutschreienden Wilden und von Tigern bevölkerten Dschungeln, die Regionen entnommen sind, die man weit entfernt von den tatsächlichen Problemen mittelöstlicher Politik einordnen würde. Auf einer Ebene kann der Holocaust hier insofern als eine Decke oder ein Schutzschild angesehen werden, als Rosenblum versucht, israelische Gewalt durch den Vergleich mit der tatsächlichen Gewalt des Nazigenozids und der vermuteten zukünftigen Gewalt Arafats zu verdrängen. Viel interessanter und letzten Endes verstörender ist jedoch die Art und Weise, wie der Holocaust quasi als Leinwand für die multi-direktionale Projektion unterschiedlicher Ängste und Sehnsüchte dient, die im orientalistischen Unbewussten durch europäische koloniale Diskurse geweckt wurden und die an Kipling und Conrad erinnern."

Um zu belegen, dass Rosenblums Ausführungen keinesfalls veraltet oder lediglich ein einmaliger Extremfall gewesen seien, verweist Rothberg auf den israelischen Historiker Benny Morris. Artikel von Benny Morris werden sehr gerne, so auch gestern, von der "Welt" und der "Achse des Guten" veröffentlicht. Bemerkenswert dabei ist, dass Morris sowohl "Verteidgungen israelischer Politik und Schmähreden gegen die Palästinenser" publiziere als auch "neue Informationen zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit" liefere, "die 1948 von der Haganah (zionistische, paramilitärische Organisation) verübt worden" seien.

Diesen scheinbaren Widerspruch hatte Morris in einem, so Rothberg, "berüchtigten Interview" mit der israelischen Zeitung "Ha'aretz" angesprochen, in dem er "Dutzende bis dato unbekannte Massaker, Vergewaltigungen und Vertreibungen, die sich 1948 in palästinensischen Städten ereigneten" mit folgenden Worten rechtfertigte: "Ohne eine Vertreibung der Palästinenser hätte ein jüdischer Staat hier nicht entstehen können … Es gibt Situationen in der Geschichte, die eine ethnische Säuberung rechtfertigen. Mir ist bewusst, dass dieser Terminus im Diskurs des 21. Jahrhunderts eindeutig negativ konnotiert ist, aber wenn man zwischen ethnischer Säuberung und Genozid – der Vernichtung deines Volkes – wählen muss, ziehe ich die ethnische Säuberung vor." Der erkennbar geschockte "Ha'aretz"-Journalist gab Morris mehrfach die Gelegenheit, sich klar von ethnischen Säuberungen zu distanzieren. Morris verweigerte dies und ergänzte, es habe keine andere Wahl gegeben: "Selbst die große amerikanische Demokratie hätte nicht ohne Vernichtung der Indianer entstehen können. Es gibt Fälle, in denen das große, gute Ganze die harten und grausamen Taten rechtfertigt, die im Laufe der Geschichte begangen werden." Woraufhin Morris zur aktuellen Politik zurückgekehrt sei und vorgeschlagen habe, für die Palästinenser solle ein Käfig gebaut werden, denn "es gibt dort ein wildes Tier, das eingesperrt werden muss."

(Es sagt wohl alles über die Ideologie der Neokonservativen aus, dass ein Propagandist ethnischer Säuberungen auf den Seiten der "Welt" und der "Achse" ein gern gesehener Gast ist, während man eine Menschenrechtlerin wie Felicia Langer massiv zu skandalisieren versucht. Andererseits gibt es von Henryk Broder, Michael Miersch, Josef Joffe und Co. gleichermaßen unfassbare Äußerungen, zu denen ich mich in diesem Blog bereits geäußert habe; ich erzähle damit also wohl nichts wirklich Neues.)

Wie Rothberg darlegt, sind Äußerungen wie die von Rosenblum und Morris Teil eines umfassenderen Diskurses. Dabei bezieht sich Rothberg auf einen kürzlich in der Zeitschrift "Israel Studies" erschienenen Artikel Arye Naors, einem Dozenten an der Ben-Gurion-Universität und früherem Kabinettsmitglied unter Begin: Naor weise darin nach, dass Befürworter eines "Großisrael" seit 1967 regelmäßig Visionen eines "zweiten Holocaust" heraufbeschworen haben. Dies diene als Teil einer Strategie, alle territorialen Zugeständnisse im Konflikt mit den Palästinensern zu unterbinden. Prominente Persönlichkeiten dieser Bewegung "zögern nicht zu argumentieren, dass territoriale Zugeständnisse den Weg zu einem zweiten Holocaust ebnen, der so fürchterlich sein wird, dass er sogar den Holocaust der Nazis verblassen lässt."

Unweigerlich erinnert man sich hier an Henryk Broders im vergangenen Jahr unternommenen Versuch, als "zweite Holocaustleugnung" die Leugnung jenes Holocaustes durchzusetzen, die Israel durch den Iran drohe. Wer sich ihr anschlösse, das seien die wesentlich gefährlicheren "Antisemiten des 21. Jahrhunderts". An die Stelle der Palästinenser ist also aktuell der Iran getreten; die Rhetorik bleibt dieselbe.

Und tatsächlich hat Broder diesen Gedanken offenbar von Morris übernommen. Der bemerkte nämlich bereits 2007 in einem von Gutachsler Hannes Stein für die "Welt" übersetzten Artikel, dass die Nazis zwar den Massenmord industrialisiert hätten. "Trotzdem standen sie ihren Opfern Auge in Auge gegenüber." Der zweite Holocaust werde aber vollkommen anders sein. In dem hier nachlesbaren Artikel fehlt zwar, wie Rothberg zutreffend feststellt zwar der Diskurs des Kolonialismus, der in Morris' früheren Äußerungen prominent war. "Der Text ist jedoch voller apokalyptischer Fantasien und labt sich an graphischen Beschreibungen von Gewalt" – und zwar bis ins Absurde hinein: etwa wenn er im letzten längeren Absatz des Artikels ausführlich eine extreme Gewaltszene schildert, die er gleich davor und danach wieder zurücknimmt ("es wird keine solch herzzerreißenden Szenen geben"). Rothberg sieht Morris Diskurs hier "an der Schnittstelle verschiedener Erinnerungen an Genozid und Massaker – Erinnerungen, die sich der bewussten Kontrolle entziehen". Der einzige Ausweg vor solch übermächtigen Erinnerungsfetzen scheint zu sein, als erster mit dem Massakrieren zu beginnen, so wie bei den ethnischen Säuberungen der Palästinenser. Es macht eben mehr Spaß, Täter als Opfer zu sein.

Das Subjekt dieser Diskurse jedenfalls, und darauf kommt es Rothberg an, ist "multi-dimensional; es ist gleichzeitig der Nazi, das Holocaustopfer, der europäische Kolonialist und der gefürchtete/gehasste Palästinenser." Mehr noch: "Statt das Verbrechen des Genozids als Teil einer langen Geschichte von Eroberung und Gewalt gegen andere Nationen, Ethnien und Rassen zu verstehen, werden die Vertreter des Kolonialismus mit den Opfern des Holocaust verglichen und als potenzielle Opfer eines 'zweiten Holocaust' dargestellt." Mit anderen Worten ist die hier vermittelte Botschaft die folgende: "Wir müssen die Barbaren, die wir kolonisieren, einpferchen, sonst bereiten sie uns eine Apokalpyse der Gewalt, gegen die der Holocaust als nur singuläres statt multidimensionales Ereignis ein Zuckerschlecken war." Der von Europäern begangene Völkermord und die europäische Schuld daran werden verlagert auf die Opfer des europäischen Kolonialismus. Das erkläre, warum in diesem Diskurs "unsere Kinder" und "unsere Frauen" eingebildeten "Eingeborenen" zum Opfer fallen, die schrecklicher seien als die "ordentlichen" Deutschen.

Fazit:

Es ist klar, dass ein analytisches Buch wie das hier vorgestellte nur einen Bruchteil der Auflage jener Boulevardtitel zwischen "Kritik der reinen Toleranz" und "Vorsicht, Bürgerkrieg" erreicht, in denen in einer wilden Abfolge ein Schrecken den nächsten jagt und worin schließlich als Quelle all dieser Bedrohungs- und Angstphantasien ein vollkommen irrationaler Islam wahrgenommen wird. Irrational sind allerdings die Phantasien selbst. Der Islam, die Araber, die Palästinenser etc. gelten nur als jeweils willkommene Projektionsfläche. Die Anthologie "Zwischen Antisemitismus und Islamophobie" liefert den Schlüssel, die Psycho-Analyse für diesen Wahn, der Teile unserer Gesellschaft derzeit gepackt hat. Es geht um unverarbeitete und vielleicht gar unverarbeitbare Traumata, die sich hier ihre Bahn brechen – sowohl von den Nachfahren der Täter als auch von den Nachfahren der Opfer. In den so entstandenen Traumwelten phantasiert sich der Antideutsche zum verfolgten Juden, die Rechtsradikalen von "Politically Incorrect" zu Untergrundkämpfern gegen den Faschismus und Israelis, die einer ethnischen Säuberung der Palästinenser oder einem "vorbeugenden" Angriff auf den Iran das Wort reden, zu Opfern eines "zweiten Holocaust". Der Islam schließlich wird in diesen Fieberträumen, die in zahllose Presseartikel münden, als der neue massenmörderische Nationalsozialismus wahrgenommen. Nur schlimmer.

Diese Buchvorstellung ist zur Verwendung in anderen Blogs, auf anderen Websites etc. freigegeben.