Mittwoch, März 12, 2008

Lexikon der Islam-Irrtümer (Rezension)

Alfred Hackensberger: Lexikon der Islam-Irrtümer. Vorurteile, Halbwahrheiten und Missverständnisse von Al-Qaida bis Zeitehe. Eichborn 2008

Mit dem Slogan "100 Tatsachen, die Sie über den Islam kennen sollten, bevor sie ihn verdammen" bewirbt der Eichborn-Verlag den neuesten Titel in seiner beliebten Reihe von Lexika über populäre Irrtümer. Schon mit diesem Slogan dürfte der Stand der Islamdebatte in der westlichen Bevölkerung treffend umrissen sein. So heftig und intensiv sie derzeit geführt wird, so sehr glänzen viele Äußerungen dabei weniger durch fundierte Kenntnisse als durch Wissensfragmente, Gerüchte und bestenfalls zur Hälfte verstandenen Informationen. Daran sind viele Protagonisten der Debatte nicht ganz unschuldig. "Jeder pickt sich das heraus, was zu seiner Ideologie oder Polemik passt", merkt Hackensberger an einer Stelle seines Buches ganz richtig an. "Ob das wissenschaftlich stichhaltig ist oder nicht, interessiert kaum. Hauptsache, es ist gut und wirksam zu gebrauchen." An einer anderen Stelle fasst er sarkastisch zusammen, zu welch grobem Zerrbild das rhetorische Trommelfeuer einiger Journalisten bereits geführt hat: "Achtung! Die Islamisierung Europas steht bevor, bald werden wir unter einem Kalifen leben, der den Frauen das Kopftuch vorschreibt und täglich Steinigungen, Auspeitschungen und Enthauptungen auf dem Marktplatz durchführen lässt! Statt einer jüdischen Weltverschwörung haben wir nun eine muslimische Kalifatsverschwörung." Auch wenn es noch so lächerlich erscheint - wenn man diverse "islamkritische" Internetforen und Blogs besucht, die sich an den Büchern einiger stark ideologisierter Journalisten orientieren, dann stößt man dort auf genau das von Hackensberger skizzierte Bild, das dort die vorherrschende Sicht der Wirklichkeit darstellt.

Alfred Hackensberger, der als langjähriger Korrespondent aus der arabischen Welt unter anderem für die "Zeit", die "Neue Zürcher Zeitung" und "Das Parlament" tiefergehende Kenntnisse besitzt, rückt vieles wieder gerade. Zu den von ihm behandelten populären Irrtümern gehören: Muslime sind Antisemiten. Islam und Demokratie sind unvereinbar. Ehrenmorde sind islamische Tradition. Die muslimische Frau ist ein unterdrücktes Wesen. Muslime wollen Deutschland islamisieren. Der Iran ist ein Musterbeispiel für Fundamentalismus und Rückständigkeit. Islamisten wollen gewaltsam die Welt verändern und ein Kalifat errichten. Die Scharia, ein blutrünstiges Instrument, ist die Rechtsgrundlage für islamische Staaten. Muslimische Gesellschaften sind sexfeindlich, prüde und strikt heterosexuell. Und viele andere mehr.

Den Zuwachs an Information, den dieses Buch liefert, kann man an ein paar weiteren Beispielen gut veranschaulichen. Unbekannt dürfte vielen Westlern zum Beispiel sein, dass das Kopftuch in der muslimischen Welt inzwischen zu einem feministischen Statement geworden ist: "Es schafft ein neues Selbstbewusstsein und befreit von all dem, was früher als erstrebenswert galt: Modediktate, Schönheitsideale und Avancen der Männer. Tayyibah Taylor, die Chefredakteurin von 'Azizah', einem Frauenmagazin, das in Chicago erscheint und sich an amerikanische Musliminnen wendet, erklärte mir das so: 'Frauen, die ihren Körper freizügig zeigen, vertrauen auf ihre sexuelle Ausstrahlung, um weiterzukommen. Muslimische Frauen dagegen, die sich sittsam kleiden, setzen auf ihren Intellekt und ihre spirituelle Kraft, um etwas zu erreichen.'" Aus eben diesem Grund dürfte Alice Schwarzers Kreuzzug, um die Schwestern zwangsweise "vom Kopftuch zu befreien", kaum von Erfolg gekrönt sein.

Die Verfasser vieler Polemiken gegen den Islam bauen darauf, dass die Scharia hierzulande fast automatisch mit Handabhacken und Steinigungen assoziiert wird und der Islamismus mit Gewalt und Herrschaftsansprüchen. Beides ist falsch, wie Hackensberger erklärt: Die Scharia ist in erster Linie eine spirituelle Idealvorstellung, von der es die unterschiedlichsten Auslegungen gibt und die nur in einigen wenigen Staaten überhaupt Eingang ins Strafrecht gefunden hat - leider in einer sehr vereinfachten und extremen Weise. "Alle anderen Nationen des Mittleren Ostens und Nordafrikas haben ein duales Rechtssystem mit einem Strafrecht nach westlichem Standard und einem Familien- und Erbrecht, das von religiösen Gerichten geregelt wird." In einem säkularen Staat wie der Türkei spielt die Scharia überhaupt keine Rolle. Die beliebte Argumentation a la "Auch für viele deutsche Muslime steht die Scharia noch über dem Grundgesetz, bestimmt haben wir übermorgen Steinigungen in Köln" ist also schlicht Bauernfängerei. Der Begriff "Islamismus" schließlich kennzeichnet diejenigen Gruppierungen, die den Islam als öffentliche statt als private Angelegenheit betrachten. Dementsprechend gibt es auch völlig gewaltfreie islamistische Organisationen wie etwa "Gerechtigkeit und Spiritualität" in Marokko, die als friedliche Basisbewegungen ausschließlich soziale Arbeit leistet und sich für Frauen einsetzt, damit diese einen Ausbildungsplatz bekommen und so finanziell unabhängig sein können.

Der Rhetorik angeblich integrationsunwilliger Muslime in Deutschland stellt Hackensberger seine eigenen Erfahrungen als Einwanderer in Marokko gegenüber: "Bislang verlangte niemand von mir, ich müsste Arabisch lernen, die Kultur des Landes oder den Islam studieren. Niemanden kümmert es, wo ich wohne. Keiner wirft mir Gettobildung oder mangelnde Integration vor, weil ich mich öfter mit Christen treffe denn mit Muslimen. Niemand fordert mich auf, zum Islam zu konvertieren. Die Polizei behandelt mich zuvorkommend, und auch meine nichtchristlichen Arbeitgeber und Kollegen tun das. Ich kann so viel Akohol trinken, wie ich will, tanzen gehen bis in den frühen Morgen und bekomme die neuesten Kinofilme auf DVD, noch bevor sie in europäischen Kinos anlaufen. Meine Frau liegt am Strand im Bikini, muss kein Kopftuch tragen oder andere Kleidungsvorschriften beachten, sei es privat oder in der Arbeit. (...) Niemand sagt: Schon wieder ein Christ oder Ausländer mehr! Die Aufenthaltsgenehmigung ist in Marokko oder dem Libanon relativ leicht zu erhalten, Kultur- oder Sprachtests gibt es nicht, noch muss ich meinen Integrationswillen sonst irgendwie beweisen. Das Einwanderungsverfahren ist wesentlich unkomplizierter als die Prozeduren, die man bei uns zu durchlaufen hat. Wir, die ungläubigen Christen, die den Irak und Afghanistan eroberten und Israel unterstützen, werden im muslimischen Ausland nicht schlecht behandelt." Ich kann mir bestens vorstellen, wie die islamophobe Szene im deutschen Internet solche Schilderungen kommentieren dürfte: "Bestimmt wird dieser Dhimmi Tag und Nacht von radikalen Musels bedroht, damit er sowas schreibt ..."

Hackensbergers Buch ist es in dem auch für Laien sehr zugänglichen Stil gehalten, für den diese Eichborn-Reihe bekannt ist. Allerdings kommt ein Werk, das über 1,5 Milliarden Menschen und die verschiedenen Strömungen ihrer Religion berichten soll, nicht ohne ein Minimum an Komplexität und Differenziertheit aus. Das liegt in der Natur der Sache, gehört aber womöglich zu seinen Schwächen. Hackensberger bedient auch nicht die Lust an der Angst, die die Hilfe-wir-werden-islamisiert-Bücher pflegen, und anders als diese schmeichelt er dem Narzissmus der Leser auch nicht mit dem Gefühl ihrer vermeintlichen kulturellen Überlegenheit. Bei der breiten Masse wird er deshalb mit Sicherheit weniger erfolgreich sein. Dass man unbekannte Sachverhalte einfach nur verständlich erklären müsste, um in den Köpfen von Menschen etwas zu bewegen, die sich bereits auf ein Weltbild festgelegt haben, ist leider ein naiver Irrglaube. Jeder aber, der statt an Angstphantasien mehr an einer Erkundung der islamischen Wirklichkeit orientiert ist, der sollte besser nach diesem Lexikon greifen.

Dienstag, März 11, 2008

"Wahlrecht und Wählerbetrug"

Es soll keiner sagen, Medienmanipulation fände in unserem Land immer nur von links statt. Ivan Nagel seziert heute in der "Frankfurter Rundschau", wie führende deutsche Medien mit geballter Gewalt ihre politischen Wünsche durchsetzen möchten. Es schlägt mal wieder die Stunde der Populisten. Ein Auszug aus dem Artikel:

Ypsilanti kann nicht die Wähler der CDU plus der FDP um ihre Stimmen betrogen haben, da diese mit 46,2 Prozent Roland Koch wählen wollten und auch wählten. Sie kann nur die 49,3 Prozent der Wähler für SPD, Grüne und Linke betrogen haben, die anders gewählt hätten, hätten sie gewusst, dass Ypsilanti bei der kommenden geheimen Wahl im Landtag notfalls bereit ist, sich auch mit sechs unerlaubten Stimmen zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen. (...) Die politisch (und logisch) richtige Frage heißt deshalb: Welcher "Wortbruch" ist dieser knappen "linken" Mehrheit (49 gegen 46 Prozent) weniger akzeptabel: Entweder Roland Koch mit einer kommissarischen (man sagt lieber: geschäftsführenden) Minderheitsregierung, solange er Lust hat, weiterregieren zu lassen, oder aber eine Minderheitsregierung mit Andrea Ypsilanti zu riskieren? (...)

Gerade diese Frage wird aber verhindert: erstens durch eine beispiellose Hetze der Rechts-Boulevardblätter; zweitens durch eine Verdummungskampagne der Rechts-Mitte-Politiker, die genau wissen (und es eben deshalb nicht sagen), dass es nicht um Becks oder Ypsilantis Wortbruch geht, sondern um Kochs letzte Chance, die verlorenen Wahlen (die CDU büßte 12 Prozent ihrer Stimmen ein) doch noch zu gewinnen.

Hier muss man den zweiten Mangel der Berichterstattung auch der besseren Zeitungen, Rundfunk- und TV-Sender beklagen. Wer heute nur über die Umfrage-Verluste für SPD, Beck, Ypsilanti berichtet, statt zugleich über die Tsunami-Welle von demagogischer Raserei, mit der die meistgelesenen Zeitungen des Landes seit den Hessen- und Hamburg-Wahlen täglich über Volk und Politik herfallen - der schildert die Lage unvollständig, also falsch. Die meisten Leser dieser Zeilen sind bei ihrer täglichen Arbeit, wenn ich als Rentner noch im Berliner Frühstückscafé sitze, in dem neben dem "Tagesspiegel" auch die "Bild-Zeitung" und die "BZ" aufliegen, das grelle Titelblatt zuoberst. Ein solche Seuche des Hasses wie in den letzten Wochen gegen Beck und "Frau Lügilanti" wurde hierzulande seit den Dutschke-Jahren nicht mehr entfesselt.


Der Artikel ist in Gänze lesenswert.