Freitag, Dezember 23, 2005

noch 23. Dezember

Immer wenn man denkt, in Sachen „Vergangenheitsbewältigung“ sei irgendwann der Gipfel des Beklopptseins erreicht, bekommt man einen neuen kuriosen Link zugeschickt – in diesem Fall zu einer Schlagzeile in dem Online-Magazin hagalil, die da allen Ernstes lautet: ”Wie erinnern sich Jugendliche an den Nationalsozialismus?”. Hm. Am besten wohl in einer hypnotischen Rückführung in ein früheres Leben? Oder war in den Neunzigern auch noch Drittes Reich, und ich hab nur nichts davon mitgekriegt, weil in der SM-Szene sowieso alle so komische Stiefel trugen? Ich hab schon Probleme zu glauben, dass sich ein heutiger Jugendlicher an den Fall der Mauer erinnern kann, aber an den Nationalsozialismus? Gut, immerhin heißt es in dem Artikel ja auch „Zu Beginn des 21. Jahrhunderts werden die Stimmen immer lauter, die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen.“ Noch irritierender finde ich allerdings die Stimmen, für die Vergangenheit und Gegenwart offenbar genauso ein und dasselbe sind wie „sich erinnern“ und „Geschichtsforschung betreiben“. Wenn sich ein Jugendlicher an den Nationalsozialismus „erinnert“, meinetwegen an die Verbrechen der Wehrmacht - „erinnert“ er sich dann an das, was ihm von den Veranstaltern der berühmten Wehrmachtsausstellung gesagt wurde, oder an das, was ihre Kritiker daran zu beanstanden hatten? Kann man sich an zwei gegensätzliche Dinge zugleich „erinnern“? Und warum wird „erinnern“ immer mehr zu einer Vokabel, die zum einen Wahrheit assoziiert (sonst könnte ich mich ja nicht darin „erinnern“) und zum anderen politische Korrektheit („Erinnerungskultur“), also politische Korrektheit und Wahrheit quasi in eins setzt? Und wieso käme eigentlich niemand auf die Idee, einen Artikel „Jugendliche erinnern sich an die Weimarer Zeit“ zu betiteln? Sprache ist verräterisch. Sprachmanipulation auch.